2.6 ...wohnt im Kanal 2001
...wohnt im Kanal, was sonst (2001)
Andrew, Dekan der Fakultät Soziologie und Psychologie, führte den Gast durch Ulan Ude, die Hauptstadt Burjatiens. Vom Leninplatz mit dem größten Leninkopf der Welt ging’s im Viertelkreis um die Stadt. Der Abhang war mit Büschen bewachsen, zerbrochene Flaschen und Plastiktüten lagen herum, es war staubig und schmutzig. Die Kanalschächte zwischen dem Buschwerk wären ihm nicht aufgefallen, hätte er nicht den Mann mit Plastiktüten zu einem Schacht ohne Deckel gehen und einsteigen, die Tüten vom Rand nehmen und verschwinden sehen, als machte er das jeden Tag. Auf die Frage, was er da mache, antwortete Andrew: „Er wohnt da im Kanal, was sonst.“ Die Ruhe, mit der Absonderlichkeiten hingenommen werden, verblüffte den Gast stets aufs Neue. Am Ende der Straße fiel die Böschung dreißig oder vierzig Meter zur Selenga ab. Weit sah man über den Fluss mit Inseln und Seitenarmen, bis er sich im Westen zwischen den Bergen verlor. Unten spannte sich eine vierspurige Brücke mit Straßenbahn darüber. Neben ihnen stand ein Kreuz aus Stein mit der Inschrift, dass Kosaken im 17. Jahrhundert bis hierher gekommen waren und das Umland erobert hatten. Blockhäuser mit hohen Bretterzäunen standen am Abhang über der Straße, Hunde bellten. Die beiden Männer stiegen in den Stadtteil ab, wo Holzhäuser die Straßen säumen, ein Mann am Ziehbrunnen auf dem Bürgersteig Wasser pumpte.                                                                                         
graphic    graphic „Hier wohnen viele Arme, ein Problemviertel.“ Nahe am Ufer wurde eine große Kirche renoviert. Friedrich wunderte sich, dass dafür Geld da war. „Es wird gesammelt, man richtet Kirchen aus Spenden her, der Staat hat kein Geld.“  Beim Zurückgehen vom Arbat – heute Fußgängerzone – zum Leninplatz auf der steil ansteigenden Hauptstraße zeigte Andrew auf ein Haus gegenüber dem Theater, alt und klein. „Hier sind früher Strafgefangene gezählt worden, die in Ketten die Straße den Berg hinuntergeschlurft sind, über die Brücke in die Wälder zum Holzschlagen mussten. Auch unter Stalin sollen Strafgefangene vorbeigezogen sein. Vieles hat Tradition in Russland.“