2.1 Exposé
Die „Notizen aus Russland“ sind ein Ergebnis von fast zwanzig Jahren Zusammenarbeit mit Institutionen eines Imperiums, das von Widersprüchen und Gegensätzen geprägt ist. Was westlichen Beobachtern skurril vorkommt, erscheint Russen normal. Für Andrej Bitow ist „das Absurde die traditionelle, sich ununterbrochen fortsetzende russische Kultur, die schon immer unter unvorstellbaren Bedingungen existiert hat.“ (Die Zeit, 9.10.2003)
Neunundsechzig Kurzgeschichten schildern das Land der Extreme aus der Sicht eines Westlers, der es oft besucht hat, die Sorgen und Nöte der Bewohner ernst nahm, ihre Eigenheiten und Traditionen akzeptierte. Wenn er in eine fremde Stadt gelangte oder ein Haus betrat, sagte ihm mitunter eine Vorahnung, es wäre klüger umzukehren; er hat es nie getan, ist eingetaucht in die andere Welt. Die Geschichten beruhen bis auf wenige Ausnahmen auf eigenen Erlebnissen und Beobachtungen. Die ersten spielen in der Sowjetunion, als eine Wende unvorstellbar schien. Wer Russland begreifen will, muss die Sowjetzeit berücksichtigen: Sie hat die Mentalität geprägt, hat die Passivität und das Hinnehmen der Anordnungen von oben verfestigt. Putin weiß, warum er die orthodoxe Kirche hofiert: In einem Kloster in Burjatien hat eine Nonne 2005 angesichts einer Kirche, die ein Dekabrist als Buße für sein Aufbegehren gegen die Willkürherrschaft des Zaren erbaut hat, gesagt: Wer gegen die Obrigkeit aufsteht, erhält die gerechte Strafe. Zwar gibt es bescheidene Ansätze von Demokratie, aber selten und wenn, sind sie kurzlebig. Eine Geschichte zeigt die ungebrochene Macht des FSB (früher KGB). Die 'Organe' haben ein langes Gedächtnis, deshalb wurden Namen geändert.
Die Kunst, jeden Anlass als Grund zum Feiern zu nehmen, um von der Tristesse des Alltags abzulenken, bot Gelegenheit, Verhalten zu beobachten. Nicht um die russische Seele zu erfassen, denn selbst wenn es eine gäbe, wozu den vielen Deutungen eine weitere hinzufügen? - Es sind lustige, komische, bittere, manchmal peinliche, selten tragische Geschichten. Die Leidensfähigkeit des russischen Volkes wurde oft beschrieben, zum Glück vergisst oder verdrängt der Mensch negative Erlebnisse eher denn heitere. Das Wiener Sprichtwort: ‚Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!’ könnte von einem Russen stammen.