5.3 Probekapitel
2. Begegnung mit dem toten Vater
Dankbar registrierte Carl, dass er wenigstens im Schlaf von den Widerwärtigkeiten verschont blieb. Manchmal träumte er von Kindheits- und Jugenderlebnissen, in denen seine Eltern die tragende Rolle spielten, vornehmlich Vater. Nach der Warnung vor dem Millionen-Dollar-Projekt war Vater wiederholt im Traum erschienen, hatte genickt, wenn er mit einem Vorhaben einverstanden war oder den Kopf geschüttelt, wenn er es nicht gut fand. Vater war quasi in sein Leben zurückgekehrt und allmählich gewöhnte er sich daran. Mit zunehmendem Alter träumt man von der Geborgenheit in Kindheit und Jugend, sehnt sich zurück in den Lebensabschnitt, der voller Hoffnung ist, in dem man unentwegt Pläne für die Zukunft – einem unabsehbar weiten Raum, gefüllt mit Sehnsucht und Erwartung – schmiedet. Kein Kind kann sich vorstellen, wie verschlungen ein Lebensweg sein kann, welche Schwierigkeiten privater und beruflicher Natur zu überwinden sind, bis der Tod einen Angehörigen nach dem anderen dahinrafft. Und dann braucht es geraume Zeit, bis man Ratschläge eines Verstorbenen annimmt, sie gar beherzigt und umsetzt.
Carl nahm den Weg auf dem Flussdamm, auf dem Vater viele Jahre Tag für Tag spaziert war. Solange der unberechenbare, bösartige Schäferhund gelebt hat, war der sein Begleiter, dann war er allein marschiert, hatte es schroff abgelehnt, sich von Familienangehörigen begleiten zu lassen, hatte nur widerwillig eingewilligt, dass der Sohn mitging, weil er im Urlaub hier war. Nun, Jahre nach Vaters Tod, spazierte Carl zum Auwald, ebenfalls allein. Im kühlen Spätnachmittag stiegen Nebel vom Fluss auf, hüllten Weiden und Erlen in zarte Schleier. Vater war trotz Familie einsam geblieben und Carl war hatte sein Erbe angetreten.
Feierlich senkte sich die Dämmerung herab, bald würde sich schweigende Dunkelheit ausbreiten. In seiner Jugend war die Au ein richtiger Urwald gewesen, geheimnisvoll und voller Abenteuer und wie damals hingen Lianen mit herbstbraunem Laub von den Bäumen, waren die Pappeln schon kahl. Niemand wartete auf ihn, er hatte all die kleinkarierten Sorgen, die Hirn und Seele belasteten, abgestreift. Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten stiegen auf, da er dem Augenblick gelebt und überzeugt war, dass eine unabsehbare Kette von Tagen und Monaten vor ihm lag und die Welt auf ihn wartete. In der Fertigkeit, lästige Pflichten von sich zu schieben, hatte er es früh zur Meisterschaft gebracht, war stundenlang mit Freunden oder allein durch den Auwald gestreift, Gedicht und Vokabeln konnten warten.
Selten war jemand auf dem Pfad durch den Wald gestreift, hin und wieder ein Angler und noch immer überwucherten ihn Gräser, Brennnessel und Buschwerk. Carl erinnerte sich an seine Angst vor Schlangen, hatte mit einem Stock auf den Boden geklopft, um sie zu verscheuchen. Die Schlangenphobie war auf jenes Abenteuer zurückzuführen, als er ausgebüxt war, in einer Höhle im Tal auf der Luftmatratze gelegen und beim Einschlafen plötzlich das Zischen vernommen hatte. Erschreckt war er hochgefahren, hatte die Kreuzotter mit den Jungen erblickt, seinen Krempel zusammengerafft und war geflohen, dabei war die Stofftasche mit den Konserven liegen geblieben. Um nichts in der Welt wäre er noch mal in die Höhle gekrochen, um die Verpflegung zu retten, die seine Kumpel gehamstert hatten. Das Biest hatte ihn mit erhobenem Kopf zischend bis ans Lagerfeuer vor der Höhle verfolgt, sich mit Steinwürfen nicht vertreiben lassen. Die Angst vor Schlangen hat er nie überwunden.
Über dem Wasser lag dick er Nebel wie Watte, der Seitenarm zwischen Ufer und Sandbank war kaum auszumachen. Zögernd überließ der weichende Tag der Nacht das Feld. Windstöße rissen Löcher in die Nebelbank, gaben den Blick aufs Wasser frei. Carl setzte sich auf einen Schieferquader auf dem Sporn, der im flachen Winkel abfiel und sechs oder sieben Meter ins Wasser ragte. Die kunstvoll aus Felsbrocken gefügten Sporne zähmten den Fluss, in ihrem Schutz hatten sich Sandbänke und Inseln aus flachen Steinen gebildet, Weidensträucher angesiedelt. Im letzten Hochwasser waren Plastikfetzen in den Zweigen hängen geblieben. Auf einer Insel hatten sie eine Hütte gebaut und am offenen Feuer gestohlene Maiskolben geröstet. Nach einem Sommergewitter, dem tagelanger Sturzregen folgte, hatte sich der Fluss in ein reißendes Gewässer verwandelt, die Ufer überschwemmt und die Insel samt Hütte weggerissen. Hatte sich der Fluss wieder beruhigt, war Carl oft allein hier gewesen, hatte im Mehlsand liegend in die gemächlich ziehenden Wolken gestarrt.
Es war Nacht geworden, Wellen blubberten ans sandige Ufer, gedankenverloren saß er da, verlor das Gefühl für Zeit. Eine Böe riss Fetzen aus dem Grau, blies sie fort, der Mond spiegelte sich silbern im Wasser. Auch als Junge war er nachts hier gesessen und hatte im Licht des Erdtrabanten Mundharmonika gespielt. Nun, da graue Strähnen sein Haar durchzogen, sann er über die verronnenen Jahre nach. Er war immer gern allein gewesen, ihn hatte eine Aura der Einsamkeit umgeben. Seine Kumpel hatten dieses In-sich-Versenken nicht verstanden, aber seine selbst gewählte Isolierung akzeptiert, es hatte keinen Sinn gemacht, ihn umstimmen zu wollen.
„Er hat seine Tage“, war ihr spöttischer Kommentar gewesen.
Einsam ist er geblieben, daran hatten weder Freunde noch Freundin etwas geändert und die Hoffnung, die Ehe werde die Absonderung beenden, war nur zu Beginn in Erfüllung gegangen. Bald nach den ersten, einigermaßen guten Ehejahren hatte er sich öfter in die Abgeschiedenheit geflüchtet. Nach dem Grund gefragt, hatte er erwidert: „Gedanken brauchen Freiheit, wie wir die Luft zum Atmen.“
Nebelschleier wallten vom Wasser hoch, hüllten Bäume und Sträucher ein, schoben sich vor den Mond bis er ganz verschwand. Leise plätscherten die Wellen über die glatt geschliffenen Steine, hin und wieder knackste es im Gehölz, sonst nur das Rascheln der Blätter. Auf einmal vernahm er schlurfende Schritte im Mehlsand, die sich näherten, er erstarrte, wollte aufstehen und gehen, doch er war außerstande, sich zu erheben. Aus dem Grau bewegte sich ein Schatten auf ihn zu, eine gebeugte Gestalt kam mit schleppenden Schritten näher, geheimnisvoll und doch irgendwie vertraut.
„Bleib ruhig sitzen“, hörte er eine Stimme, die er lange nicht mehr oder nur im Schlaf vernommen hatte. „Keine Angst, ich bin es, dein Vater.“
Allmählich löste sich die Erstarrung, Carl erhob sich, um das Trugbild abzuschütteln, war sich bewusst, das konnte nur eine Sinnestäuschung sein. In letzter Zeit hatte er viel gearbeitet, seine Nerven lagen blank.
„Nein, deine Nerven sind schon in Ordnung und du bist nicht krank“, beruhigte ihn die rauchige Stimme Vaters.
Carl vermeinte, das leise Lachen zu vernehmen wie früher, wenn sich Vater über einen Streich amüsiert hatte. „Ich will mit dir plaudern.“
Noch immer brachte der Sohn kein Wort hervor.
„Willst du mir nicht wenigstens guten Abend wünschen und fragen, wie’s mir geht?“
Langsam klärte sich das Wirrwarr im Kopf. „Ich bin, ich glaube …“ stotterte Carl.
Vater trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter, so leicht, er spürte sie nicht. „Du bist verwirrt, kein Wunder, hast nicht erwartet, mich zu sehen. Ich will mit dir reden, vielleicht kann ich dir abermals einen Rat geben.“ Anspielung auf das zwielichtige Projekt mit den Dollarmillionen.
„Aber du bist doch …“, wandte Carl ein.
„Richtig, ich bin gestorben, vor Jahren schon. Das wolltest du doch sagen? Ja mein Lieber, ich bin tot, mausetot wie man zu sagen pflegt. Mir bleibt nicht viel Zeit, um zu erklären, was der Grund meines Besuchs ist.“
Vater hatte das Gesicht abgewendet und als er es ihm zudrehte, war in seinen Augen ein kraftloses gelbliches Flackern, Carl dachte an einen Kerzenstumpen vor dem Verlöschen. „Das muss ein Traum sein“, brach es aus Carl hervor. „Du kannst nicht durch den Sand latschen wie ein Lebender und reden!“ Er bildete sich ein, den Lufthauch zu spüren, als der alte Mann um ihn herumging und ihn von allen Seiten betrachtete, ohne auf den Einwand einzugehen.
„Bist älter geworden, Sohn, lass mich rechnen: Über fünfzig müsstest du sein …“
„Bald fünfundfünfzig“, bestätigte Carl und fuhr mit der Hand durch die Haare, eine Geste der Verlegenheit. „Gut, dass es dunkel ist und Nebel herrscht. Käme jemand vorbei, würde er annehmen, ich sei übergeschnappt: Hier im Dunkeln zu sitzen und zu reden!“
„Um die Uhrzeit kommt niemand vorbei, aber er würde das wohl denken“, stimmte Vater zu. „Zumal er mich weder hören noch sehen könnte.“
Der Mond lugte durch ein Nebelloch, Carl sah das verschmitzte Lächeln. „Du lachst wie früher…“, flüsterte er.
„Na ja, das ist wohl etwas übertrieben“, korrigierte der Alte und verzog den Mund. 
Sein Gesicht Vaters wirkte eingefallen, die hagere Gestalt hob sich scharf im Mondlicht ab. Wo ein Schatten ist, überlegte Carl, muss etwas sein, das Schatten wirft, aber da war nichts. „Du schaust nicht gut aus, es geht dir wohl nicht gut, dort wo du bist.“
Das düstere Gebilde, Carl wusste nicht recht, wie es benennen, schüttelte den Kopf. „Wo ich bin, geht es einem weder gut noch schlecht. Manchmal sehe ich aus wie in den letzten Monaten im Leben, dann wieder wie ein Toter. Ich fühle den Wandel nicht, weiß aber, dass es so ist …“
Unsicher reagierte Carl. „Ich kann es nicht fassen Vati“, spontan benützte er die gewohnte Anrede, „dass du hier bist.“ Er zögerte. „Du gehst mir ab, niemand, der mit mir stundenlang diskutiert, niemand, dem ich erzähle, was mich bewegt, niemand, der mir Ratschläge gibt und in schwierigen Situationen hilft, ohne zu fragen, was er davon hat.“ Er stellte richtig: „Nun, ganz stimmt das nicht, du erscheinst manchmal im Traum …“
„Ich weiß, meen Jung, ich weiß“, antwortete Vater in dem Tonfall, wie er mit ihm gesprochen hatte, als er klein war. „Trotz Familie bist du allein geblieben. Das Gefühl war auch mir nicht fremd.“ Er zauderte, zog den weiten Mantel um sich. „Dir muss kalt sein bei dem Wetter.“ Ohne Übergang flüsterte er: „Wie gerne würde ich noch einmal an der Westseite unseres Hauses in der Sonne sitzen, ein einziges Mal.“ Er stockte, hob den Kopf. „Aber ich bin nicht gekommen um zu jammern und der Vergangenheit nachzuweinen. Es geht um dich. Du bist nicht glücklich, hast meine innere Unruhe geerbt …“
Carl schwieg. Das erste Mal, dass Vater mit ihm dergleichen besprach, er hatte Gefühle oder geheime Gedanken nie preisgegeben.
„Richtig“, stimmte Vater seinen Überlegungen zu. „Es sei denn, ich hatte einige Gläser intus, dann fiel es mir leichter, über Gefühle zu sprechen. Das lag an der Erziehung, aber es tut nicht gut, seine Emotionen ständig zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Das kostet Kraft, unnötige Kraft und hat innere Starre zur Folge.“ Er setzte sich auf den blank polierten Baumstamm, den das Hochwasser angeschwemmt hatte. „Du wunderst dich über die Erkenntnis, sie kommt leider zu spät.“
Carl vermeinte das Lächeln im bleichen Gesicht zu sehen.
„Nun, ich hatte Gelegenheit genug zum Grübeln.“ Er zögerte. „Du bist anders, kannst Gefühle zeigen, auch ohne Alkohol. Das ist gut, bist in diesem Punkt mehr Mutter nachgeraten.“
„Früher“, wandte Carl ein, „hast du manchmal betont, ich hätte von Mutter ein Übermaß an Fantasie mitbekommen …“
Vater lächelte. „Das stimmt, ich wollte verhindern, dass du in die Fußstapfen deines Großvaters trittst. Ich befürchtete, du könntest dir Chancen im Berufsleben verbauen.“ Nachdenklich gab er zu: „Du weißt, ich hatte gehofft, du würdest einmal mein Nachfolger in der Fabrik werden… Daraus ist nichts geworden. Für dich war es wohl besser so.“ Er begann, mit einem Stock seltsame Zeichen in den Sand zu malen. „Du hast jede Gelegenheit, dich zu verändern, beim Schopf gepackt, hast deine Unruhe durch Reisen in ferne Länder bekämpft.“ Er zögerte. „Ganz besiegen wirst du sie nie. Ich hatte keine Gelegenheit dazu, brauchte im Krieg und nachher meine ganze Kraft, um das Überleben der Familie zu sichern.“
Nach seiner Pensionierung, dachte Carl, hätte er genügend Zeit gehabt und auch die Mittel, mit Mutter in ein Heilbad zu reisen, etwas zu unternehmen, das sie sich all die Jahre gewünscht hat. Sie hätten es sich gut gehen lassen können, Vater hätte Mutter mehr bieten können als den ewig gleichen Trott: Punkt zwölf das Mittagessen auf dem Tisch.
„Stimmt, ich war festgefahren und hatte nicht den Mut, das Ruder herumzureißen. Aber lassen wir die Vergangenheit, daran ist nichts zu ändern.“
Erstaunt stellte Carl fest, Vater hatte reagiert, als hätte er das alles ausgesprochen, dabei hatte er es nur gedacht. Als Vater den Kopf hob, sah sein Sohn den dünnen Hals, die Gestalt schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.
„Nicht mal das“, nahm Vater den unausgesprochenen Gedanken auf, „ist geblieben. Ich könnte“, grinste er, „als Gespenst durchgehen, bin eben ein Schatten. Du hast das vorhin richtig erkannt: Da ist nichts mehr, das Schatten werfen könnte, bin selbst einer geworden.“
Eine verwirrende Aussage. Ehe Carl nachhaken konnte, machte Vater mit dem Arm eine weit ausholende Geste. „Hier am Fluss hast du als Junge die Abenteuer Tom Sawyers nachgespielt. Jetzt stehst du zwar bereits im letzten Drittel deines Lebens, aber dir steht noch einiges bevor.“
Carl kam nicht dazu, nachzufragen, was er damit ausdrücken wollte.
„Du bist hergekommen, weil ich dich sehen wollte, hast es gespürt.“ Als ob er fröstelte, zog er den weiten Kapuzenmantel fester an sich.
In der Tat hatte Carl zu Hause ein Drängen verspürt, es hatte ihn hergezogen, obwohl bald die Dunkelheit einfallen würde. „Willst du meinen Anorak überziehen?“ Er stand auf. Vater lächelte und Carl erkannte im fahlen Licht, dass er keine Zähne hatte.
„Danke, sehr fürsorglich, aber er würde nichts nützen. Ich könnte ihn nicht tragen, er fiele zu Boden. Bleib sitzen, es ist alles gut, mir ist nicht kalt.“
Gemächlich zogen die Nebelschwaden über dem Fluss, hin und wieder riss ein Windstoß ein Stück heraus. Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander.
„Dort“, nahm Vater den Faden wieder auf, „wo ich jetzt bin, frage ich mich stets von neuem, warum ich das eine so und das andere anders gemacht habe. Von außen gesehen mag das wie eine Strafe wirken, sich wieder und wieder vorzustellen, wie man etwas besser machen hätte können und zu wissen, nichts mehr daran ändern zu können, absolut nichts.“
„Warum solltest du bestraft werden?“, fragte Carl. „Du hast dein ganzes Leben hart gearbeitet, hast dir nie etwas Unrechtes zu Schulden kommen lassen, hast gut für deine Familie gesorgt …“
Vater wandte ihm den Kopf zu. Carl sah im schmalen ausgezehrten Gesicht den Totenkopf durchschimmern, rief sich zur Ordnung: Schließlich war Vater tot, wie sollte er sonst aussehen? Oder war es so wie er angedeutet hatte, dass sich sein Aussehen wandelte?
„Ich kann nicht lange bleiben“, vertraute ihm Vater an und als könnte er die Gedanken seines Sohns lesen, bestätigte er: „Ich schlüpfe wieder in die Gestalt, die mir zugewiesen wurde, erschrick nicht.“ Stockend ging er auf die Aussage des Sohns ein: „Na ja, im Wesentlichen stimmt das. Aber ich habe Fehler gemacht, viele Fehler. Das Grübeln empfinde ich nicht als Strafe, es ist, wie du noch erfahren wirst, ein Privileg.“ Dann folgte ein Satz, den Carl überhaupt nicht verstand. „Erinnerungen sind das einzige, was uns bleibt und das oft nicht für immer …“ Er nahm den Stock, zeichnete einen Kreis in den Sand, malte Striche für die Stunden ein, keinen Stundenzeiger. Der Minutenzeiger stand knapp vor zwölf. „Ich muss weg, es bleibt keine Zeit für das, was ich dir eigentlich sagen wollte. Nur so viel jetzt: Du wirst noch eine Weile in der Talsohle ausharren müssen, manches Ungemach zu überstehen haben.“ Er erhob sich. „Komm hierher, wenn ich dich rufe, du wirst es spüren. Erzähle niemandem von unserem Treffen, sie würden dich für übergeschnappt halten. Die Leute schätzen es nicht, wenn jemand allzu sehr von der Norm abweicht …“
Carl streckte gewohnheitsmäßig die Hand aus, doch die Gestalt war überraschend schnell im Nebel verschwunden. Wie erstarrt saß er auf dem Baumstrunk, bis die Nachtkälte in die Glieder stieg. Er rieb sich die Augen. „Habe ich geschlafen, die Begegnung nur geträumt?“ Nachdenklich betrachtete er den Kreis im Sand mit den regelmäßigen Strichen für die Stunden, der lange Zeiger stand nun auf zwölf, der Stundenzeiger fehlte. Ein Beweis, dass er da war? Er war sich ganz sicher, die Uhr nicht in den Sand gezeichnet zu haben, schlenkerte die Beine, um die Starre aus den Gelenken zu vertreiben, ging mit schleppenden Schritten durch den Auwald zur Straße. Es war kühl geworden im Wind. Kopfschüttelnd ermahnte er sich, seiner Fantasie Fesseln anzulegen, es war nicht ungefährlich, Erträumtes mit der Realität zu verwechseln. Er schritt rasch aus, schlich im Haus in den zweiten Stock, mied knarrende Stufen, um niemanden zu wecken, bis ihm einfiel, er war allein, die Kinder waren aus dem Haus, seine Frau war unter der Erde, genauer: ihre Asche im Meer. Sie hatte eine Seebestattung gewünscht, wollte nicht, dass er und die Kinder zur Grabstätte pilgerten, es war ihr wichtig gewesen, der Familie traurige Erinnerungen zu ersparen. Er trat auf den Holzbalkon, starrte auf die über dem Fluss liegenden Nebelbänke, sah die Lichter des Dorfes gegen die Schwärze der Nacht ankämpfen, lauschte dem dunklen Anrollen der Eisenbahn aus der Ferne, dem Anschwellen des Gedröhnes, dem Vorbeidonnern und dem sich entfernendem Verklingen. Die Zuggeräusche waren ihm von Kindheit an vertraut. Ihm fiel ihm, Vater hatte ihn etwas fragen wollen. Unschlüssig zog er sich aus, schlief sofort ein. Plötzlich fuhr er auf, setzte sich kerzengerade im Bett auf und stieß sich den Kopf an der Schrägdecke an. Was war das gewesen? Vater hatte ihn im Traum gefragt, ob er nie mehr zum Moorsee komme, um das Mädchen mit dem seltsamen Namen Moormaid zu besuchen. Von jenem eigenartigen Land, das er Moorland genannt habe, wisse er nur das, was der Sohn im Buch beschrieben hat. Verwirrt stand Carl auf, trat im Nachthemd – die einengenden Pyjamas konnte er nicht ausstehen – auf den Balkon. Vater hatte also sein Buch gelesen, verwechselte ihn offensichtlich mit Hannes, dem Protagonisten. Ihn hatte Maid geliebt, so war es geschildert. Carl legte das Gesicht in die offenen Hände wie stets, wenn er Erinnerungen aus dem Gedächtnis aufzurufen versuchte. Wohl war ihm bewusst, dass die Begegnung am Fluss und der Traum Halluzinationen waren, ein Toter kann sich nicht auf den Weg in die Welt der Lebenden machen, doch die Frage ließ ihn nicht los, was Vater im Traum sagen hatte wollen. In den letzten Monaten hat er viel an Vater gedacht, er war in der Erinnerung so lebendig als lebte er. Seinerzeit, als sie im Urlaub in den Bergen jeden Abend Karten gespielt und viel gelacht hatten. Auch im Spiel hatte Vater seine Korrektheit nie ablegen, sein Wesen nicht ändern können. Ein einziges Mal hat Carl gezeigt, dass er so mischen konnte, dass eine bestimmte Karte obenauf blieb, Vater hatte das nicht amüsant gefunden und gerügt: „Mogeln beim Spielen gibt es nicht!“
Carl war auf dem Rückweg aus dem Urlaub. Wochen hatten ihn die lästigen Scherereien verschont, als ihn die Wirklichkeit auf der Autobahn einholte. Ein Streifenwagen winkte ihn mit der Kelle auf einen Rastplatz. „Sie sind zu schnell gefahren, Ihre Papiere bitte!“, bellte der Polizist, überprüfte die Autonummer und reichte den Ausweis zurück.
Im Strom der Fahrzeuge war Carl wie hundert andere zehn Kilometer schneller als erlaubt gefahren, hütete sich aber, das einzuwenden. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, zu schweigen. Irgendetwas war immer am Auto zu finden, das nicht den Vorschriften entsprach. Der zweite Polizist, der im Auto sitzen geblieben war, hatte eine Suchanzeige mit Foto in den Händen. Carl hatte einen Blick darauf geworfen, ihm schien, der Gesuchte sah ihm ähnlich. Auf die Frage, ob sie jemanden suchten, kam ein kurzes Ja. Carl nahm den Zahlschein entgegen. „Sie können weiterfahren.“
„Kann ich das Foto mal sehen?“, erkundigte sich Carl.
Der Beamte schaute zum Kollegen, der nickte. Eine Ähnlichkeit war vorhanden, der auf dem Suchbild schien allerdings jünger zu sein. Waren seine Kalamitäten etwa auf eine Verwechslung zurückzuführen? Wie eine Sofortbildkamera hatte er das zweite Foto gespeichert, das der Polizist nicht schnell genug verdeckt hatte; der Mann auf dem Bild war ohne Zweifel er. Bildausschnitt und Hintergrund glichen jenen im Bildtelefon, er war also angezapft worden. Doch seit der Begegnung mit Vater maß er den Schwierigkeiten nicht mehr so viel Bedeutung bei.