2. Begegnung mit dem toten Vater
Dankbar registrierte Carl, dass er wenigstens
im Schlaf von den Widerwärtigkeiten
verschont blieb. Manchmal träumte er von Kindheits- und Jugenderlebnissen, in
denen seine Eltern die tragende Rolle spielten, vornehmlich Vater. Nach der
Warnung vor dem Millionen-Dollar-Projekt war Vater wiederholt im Traum
erschienen, hatte genickt, wenn er mit einem Vorhaben einverstanden war oder
den Kopf geschüttelt, wenn er es nicht gut fand. Vater war quasi in sein Leben
zurückgekehrt und allmählich gewöhnte er sich daran. Mit zunehmendem Alter
träumt man von der Geborgenheit in Kindheit und Jugend, sehnt sich zurück in den
Lebensabschnitt, der voller Hoffnung ist, in dem man unentwegt Pläne für die
Zukunft einem unabsehbar weiten Raum, gefüllt mit Sehnsucht und Erwartung
schmiedet. Kein Kind kann sich vorstellen, wie verschlungen ein Lebensweg sein
kann, welche Schwierigkeiten privater und beruflicher Natur zu überwinden sind, bis
der Tod einen Angehörigen nach dem anderen dahinrafft. Und dann braucht es
geraume Zeit, bis man Ratschläge eines Verstorbenen annimmt, sie gar beherzigt
und umsetzt.
Carl nahm den Weg auf dem Flussdamm, auf
dem Vater viele Jahre Tag für Tag
spaziert war. Solange der unberechenbare, bösartige Schäferhund gelebt hat, war
der sein Begleiter, dann war er allein marschiert, hatte es schroff abgelehnt, sich
von Familienangehörigen begleiten zu lassen, hatte nur widerwillig eingewilligt,
dass der Sohn mitging, weil er im Urlaub hier war. Nun, Jahre nach Vaters Tod,
spazierte Carl zum Auwald, ebenfalls allein. Im kühlen Spätnachmittag stiegen
Nebel vom Fluss auf, hüllten Weiden und Erlen in zarte Schleier. Vater war trotz
Familie einsam geblieben und Carl war hatte sein Erbe angetreten.
Feierlich senkte sich die Dämmerung
herab, bald würde sich schweigende
Dunkelheit ausbreiten. In seiner Jugend war die Au ein richtiger Urwald gewesen,
geheimnisvoll und voller Abenteuer und wie damals hingen Lianen mit
herbstbraunem Laub von den Bäumen, waren die Pappeln schon kahl. Niemand
wartete auf ihn, er hatte all die kleinkarierten Sorgen, die Hirn und Seele
belasteten, abgestreift. Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten stiegen auf, da er
dem Augenblick gelebt und überzeugt war, dass eine unabsehbare Kette von
Tagen und Monaten vor ihm lag und die Welt auf ihn wartete. In der Fertigkeit,
lästige Pflichten von sich zu schieben, hatte er es früh zur Meisterschaft gebracht,
war stundenlang mit Freunden oder allein durch den Auwald gestreift, Gedicht und
Vokabeln konnten warten.
Selten war jemand auf dem Pfad durch den
Wald gestreift, hin und wieder ein
Angler und noch immer überwucherten ihn Gräser, Brennnessel und Buschwerk.
Carl erinnerte sich an seine Angst vor Schlangen, hatte mit einem Stock auf den
Boden geklopft, um sie zu verscheuchen. Die Schlangenphobie war auf jenes
Abenteuer zurückzuführen, als er ausgebüxt war, in einer Höhle im Tal auf der
Luftmatratze gelegen und beim Einschlafen plötzlich das Zischen vernommen hatte.
Erschreckt war er hochgefahren, hatte die Kreuzotter mit den Jungen erblickt,
seinen Krempel zusammengerafft und war geflohen, dabei war die Stofftasche mit
den Konserven liegen geblieben. Um nichts in der Welt wäre er noch mal in die
Höhle gekrochen, um die Verpflegung zu retten, die seine Kumpel gehamstert
hatten. Das Biest hatte ihn mit erhobenem Kopf zischend bis ans Lagerfeuer vor
der Höhle verfolgt, sich mit Steinwürfen nicht vertreiben lassen. Die Angst vor
Schlangen hat er nie überwunden.
Über dem Wasser lag dick er Nebel
wie Watte, der Seitenarm zwischen Ufer und
Sandbank war kaum auszumachen. Zögernd überließ der weichende Tag der
Nacht das Feld. Windstöße rissen Löcher in die Nebelbank, gaben den Blick aufs
Wasser frei. Carl setzte sich auf einen Schieferquader auf dem Sporn, der im
flachen Winkel abfiel und sechs oder sieben Meter ins Wasser ragte. Die kunstvoll
aus Felsbrocken gefügten Sporne zähmten den Fluss, in ihrem Schutz hatten sich
Sandbänke und Inseln aus flachen Steinen gebildet, Weidensträucher angesiedelt.
Im letzten Hochwasser waren Plastikfetzen in den Zweigen hängen geblieben. Auf
einer Insel hatten sie eine Hütte gebaut und am offenen Feuer gestohlene
Maiskolben geröstet. Nach einem Sommergewitter, dem tagelanger Sturzregen
folgte, hatte sich der Fluss in ein reißendes Gewässer verwandelt, die Ufer
überschwemmt und die Insel samt Hütte weggerissen. Hatte sich der Fluss wieder
beruhigt, war Carl oft allein hier gewesen, hatte im Mehlsand liegend in die
gemächlich ziehenden Wolken gestarrt.
Es war Nacht geworden, Wellen blubberten
ans sandige Ufer, gedankenverloren
saß er da, verlor das Gefühl für Zeit. Eine Böe riss Fetzen aus dem Grau, blies
sie
fort, der Mond spiegelte sich silbern im Wasser. Auch als Junge war er nachts hier
gesessen und hatte im Licht des Erdtrabanten Mundharmonika gespielt. Nun, da
graue Strähnen sein Haar durchzogen, sann er über die verronnenen Jahre nach.
Er war immer gern allein gewesen, ihn hatte eine Aura der Einsamkeit umgeben.
Seine Kumpel hatten dieses In-sich-Versenken nicht verstanden, aber seine selbst
gewählte Isolierung akzeptiert, es hatte keinen Sinn gemacht, ihn umstimmen zu
wollen.
„Er hat seine Tage, war ihr spöttischer
Kommentar gewesen.
Einsam ist er geblieben, daran hatten
weder Freunde noch Freundin etwas
geändert und die Hoffnung, die Ehe werde die Absonderung beenden, war nur zu
Beginn in Erfüllung gegangen. Bald nach den ersten, einigermaßen guten
Ehejahren hatte er sich öfter in die Abgeschiedenheit geflüchtet. Nach dem Grund
gefragt, hatte er erwidert: „Gedanken brauchen Freiheit, wie wir die Luft zum
Atmen.
Nebelschleier wallten vom Wasser hoch,
hüllten Bäume und Sträucher ein, schoben
sich vor den Mond bis er ganz verschwand. Leise plätscherten die Wellen über die
glatt geschliffenen Steine, hin und wieder knackste es im Gehölz, sonst nur das
Rascheln der Blätter. Auf einmal vernahm er schlurfende Schritte im Mehlsand, die
sich näherten, er erstarrte, wollte aufstehen und gehen, doch er war außerstande,
sich zu erheben. Aus dem Grau bewegte sich ein Schatten auf ihn zu, eine
gebeugte Gestalt kam mit schleppenden Schritten näher, geheimnisvoll und doch
irgendwie vertraut.
„Bleib ruhig sitzen, hörte
er eine Stimme, die er lange nicht mehr oder nur im
Schlaf vernommen hatte. „Keine Angst, ich bin es, dein Vater.
Allmählich löste sich die Erstarrung,
Carl erhob sich, um das Trugbild
abzuschütteln, war sich bewusst, das konnte nur eine Sinnestäuschung sein. In
letzter Zeit hatte er viel gearbeitet, seine Nerven lagen blank.
„Nein, deine Nerven sind schon in Ordnung
und du bist nicht krank, beruhigte ihn
die rauchige Stimme Vaters.
Carl vermeinte, das leise Lachen zu vernehmen
wie früher, wenn sich Vater über
einen Streich amüsiert hatte. „Ich will mit dir plaudern.
Noch immer brachte der Sohn kein Wort
hervor.
„Willst du mir nicht wenigstens guten
Abend wünschen und fragen, wies mir geht?
Langsam klärte sich das Wirrwarr
im Kopf. „Ich bin, ich glaube
stotterte Carl.
Vater trat zu ihm, legte ihm die Hand
auf die Schulter, so leicht, er spürte sie nicht.
„Du bist verwirrt, kein Wunder, hast nicht erwartet, mich zu sehen. Ich will mit dir
reden, vielleicht kann ich dir abermals einen Rat geben. Anspielung auf das
zwielichtige Projekt mit den Dollarmillionen.
„Aber du bist doch
, wandte Carl ein.
„Richtig, ich bin gestorben, vor Jahren
schon. Das wolltest du doch sagen? Ja mein
Lieber, ich bin tot, mausetot wie man zu sagen pflegt. Mir bleibt nicht viel Zeit, um
zu erklären, was der Grund meines Besuchs ist.
Vater hatte das Gesicht abgewendet und
als er es ihm zudrehte, war in seinen
Augen ein kraftloses gelbliches Flackern, Carl dachte an einen Kerzenstumpen vor
dem Verlöschen. „Das muss ein Traum sein, brach es aus Carl hervor. „Du kannst
nicht durch den Sand latschen wie ein Lebender und reden! Er bildete sich ein,
den Lufthauch zu spüren, als der alte Mann um ihn herumging und ihn von allen
Seiten betrachtete, ohne auf den Einwand einzugehen.
„Bist älter geworden, Sohn, lass
mich rechnen: Über fünfzig müsstest du sein
„Bald fünfundfünfzig,
bestätigte Carl und fuhr mit der Hand durch die Haare, eine
Geste der Verlegenheit. „Gut, dass es dunkel ist und Nebel herrscht. Käme jemand
vorbei, würde er annehmen, ich sei übergeschnappt: Hier im Dunkeln zu sitzen und
zu reden!
„Um die Uhrzeit kommt niemand vorbei,
aber er würde das wohl denken, stimmte
Vater zu. „Zumal er mich weder hören noch sehen könnte.
Der Mond lugte durch ein Nebelloch, Carl
sah das verschmitzte Lächeln. „Du lachst
wie früher
, flüsterte er.
„Na ja, das ist wohl etwas übertrieben,
korrigierte der Alte und verzog den Mund.
Sein Gesicht Vaters wirkte eingefallen,
die hagere Gestalt hob sich scharf im
Mondlicht ab. Wo ein Schatten ist, überlegte Carl, muss etwas sein, das Schatten
wirft, aber da war nichts. „Du schaust nicht gut aus, es geht dir wohl nicht gut, dort
wo du bist.
Das düstere Gebilde, Carl wusste
nicht recht, wie es benennen, schüttelte den
Kopf. „Wo ich bin, geht es einem weder gut noch schlecht. Manchmal sehe ich aus
wie in den letzten Monaten im Leben, dann wieder wie ein Toter. Ich fühle den
Wandel nicht, weiß aber, dass es so ist
Unsicher reagierte Carl. „Ich kann es
nicht fassen Vati, spontan benützte er die
gewohnte Anrede, „dass du hier bist. Er zögerte. „Du gehst mir ab, niemand, der
mit mir stundenlang diskutiert, niemand, dem ich erzähle, was mich bewegt,
niemand, der mir Ratschläge gibt und in schwierigen Situationen hilft, ohne zu
fragen, was er davon hat. Er stellte richtig: „Nun, ganz stimmt das nicht, du
erscheinst manchmal im Traum
„Ich weiß, meen Jung, ich weiß,
antwortete Vater in dem Tonfall, wie er mit ihm
gesprochen hatte, als er klein war. „Trotz Familie bist du allein geblieben. Das
Gefühl war auch mir nicht fremd. Er zauderte, zog den weiten Mantel um sich. „Dir
muss kalt sein bei dem Wetter. Ohne Übergang flüsterte er: „Wie gerne würde ich
noch einmal an der Westseite unseres Hauses in der Sonne sitzen, ein einziges
Mal. Er stockte, hob den Kopf. „Aber ich bin nicht gekommen um zu jammern und
der Vergangenheit nachzuweinen. Es geht um dich. Du bist nicht glücklich, hast
meine innere Unruhe geerbt
Carl schwieg. Das erste Mal, dass Vater
mit ihm dergleichen besprach, er hatte
Gefühle oder geheime Gedanken nie preisgegeben.
„Richtig, stimmte Vater seinen Überlegungen
zu. „Es sei denn, ich hatte einige
Gläser intus, dann fiel es mir leichter, über Gefühle zu sprechen. Das lag an der
Erziehung, aber es tut nicht gut, seine Emotionen ständig zu kontrollieren und im
Zaum zu halten. Das kostet Kraft, unnötige Kraft und hat innere Starre zur Folge. Er
setzte sich auf den blank polierten Baumstamm, den das Hochwasser
angeschwemmt hatte. „Du wunderst dich über die Erkenntnis, sie kommt leider zu
spät.
Carl vermeinte das Lächeln im bleichen
Gesicht zu sehen.
„Nun, ich hatte Gelegenheit genug zum
Grübeln. Er zögerte. „Du bist anders,
kannst Gefühle zeigen, auch ohne Alkohol. Das ist gut, bist in diesem Punkt mehr
Mutter nachgeraten.
„Früher, wandte Carl ein, „hast
du manchmal betont, ich hätte von Mutter ein
Übermaß an Fantasie mitbekommen
Vater lächelte. „Das stimmt, ich
wollte verhindern, dass du in die Fußstapfen deines
Großvaters trittst. Ich befürchtete, du könntest dir Chancen im Berufsleben
verbauen. Nachdenklich gab er zu: „Du weißt, ich hatte gehofft, du würdest einmal
mein Nachfolger in der Fabrik werden
Daraus ist nichts geworden. Für dich war
es wohl besser so. Er begann, mit einem Stock seltsame Zeichen in den Sand zu
malen. „Du hast jede Gelegenheit, dich zu verändern, beim Schopf gepackt, hast
deine Unruhe durch Reisen in ferne Länder bekämpft. Er zögerte. „Ganz besiegen
wirst du sie nie. Ich hatte keine Gelegenheit dazu, brauchte im Krieg und nachher
meine ganze Kraft, um das Überleben der Familie zu sichern.
Nach seiner Pensionierung, dachte Carl,
hätte er genügend Zeit gehabt und auch
die Mittel, mit Mutter in ein Heilbad zu reisen, etwas zu unternehmen, das sie sich
all die Jahre gewünscht hat. Sie hätten es sich gut gehen lassen können, Vater
hätte Mutter mehr bieten können als den ewig gleichen Trott: Punkt zwölf das
Mittagessen auf dem Tisch.
„Stimmt, ich war festgefahren und hatte
nicht den Mut, das Ruder herumzureißen.
Aber lassen wir die Vergangenheit, daran ist nichts zu ändern.
Erstaunt stellte Carl fest, Vater hatte
reagiert, als hätte er das alles ausgesprochen,
dabei hatte er es nur gedacht. Als Vater den Kopf hob, sah sein Sohn den dünnen
Hals, die Gestalt schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen.
„Nicht mal das, nahm Vater den unausgesprochenen
Gedanken auf, „ist
geblieben. Ich könnte, grinste er, „als Gespenst durchgehen, bin eben ein
Schatten. Du hast das vorhin richtig erkannt: Da ist nichts mehr, das Schatten
werfen könnte, bin selbst einer geworden.
Eine verwirrende Aussage. Ehe Carl nachhaken
konnte, machte Vater mit dem
Arm eine weit ausholende Geste. „Hier am Fluss hast du als Junge die Abenteuer
Tom Sawyers nachgespielt. Jetzt stehst du zwar bereits im letzten Drittel deines
Lebens, aber dir steht noch einiges bevor.
Carl kam nicht dazu, nachzufragen, was
er damit ausdrücken wollte.
„Du bist hergekommen, weil ich dich sehen
wollte, hast es gespürt. Als ob er
fröstelte, zog er den weiten Kapuzenmantel fester an sich.
In der Tat hatte Carl zu Hause ein Drängen
verspürt, es hatte ihn hergezogen,
obwohl bald die Dunkelheit einfallen würde. „Willst du meinen Anorak überziehen?
Er stand auf. Vater lächelte und Carl erkannte im fahlen Licht, dass er keine Zähne
hatte.
„Danke, sehr fürsorglich, aber er
würde nichts nützen. Ich könnte ihn nicht tragen, er
fiele zu Boden. Bleib sitzen, es ist alles gut, mir ist nicht kalt.
Gemächlich zogen die Nebelschwaden über dem Fluss, hin und wieder riss ein
Windstoß ein Stück heraus. Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander.
„Dort, nahm Vater den Faden wieder
auf, „wo ich jetzt bin, frage ich mich stets von
neuem, warum ich das eine so und das andere anders gemacht habe. Von außen
gesehen mag das wie eine Strafe wirken, sich wieder und wieder vorzustellen, wie
man etwas besser machen hätte können und zu wissen, nichts mehr daran ändern
zu können, absolut nichts.
„Warum solltest du bestraft werden?,
fragte Carl. „Du hast dein ganzes Leben hart
gearbeitet, hast dir nie etwas Unrechtes zu Schulden kommen lassen, hast gut für
deine Familie gesorgt
Vater wandte ihm den Kopf zu. Carl sah
im schmalen ausgezehrten Gesicht den
Totenkopf durchschimmern, rief sich zur Ordnung: Schließlich war Vater tot, wie
sollte er sonst aussehen? Oder war es so wie er angedeutet hatte, dass sich sein
Aussehen wandelte?
„Ich kann nicht lange bleiben, vertraute
ihm Vater an und als könnte er die
Gedanken seines Sohns lesen, bestätigte er: „Ich schlüpfe wieder in die Gestalt,
die mir zugewiesen wurde, erschrick nicht. Stockend ging er auf die Aussage des
Sohns ein: „Na ja, im Wesentlichen stimmt das. Aber ich habe Fehler gemacht,
viele Fehler. Das Grübeln empfinde ich nicht als Strafe, es ist, wie du noch erfahren
wirst, ein Privileg. Dann folgte ein Satz, den Carl überhaupt nicht verstand.
„Erinnerungen sind das einzige, was uns bleibt und das oft nicht für immer
Er
nahm den Stock, zeichnete einen Kreis in den Sand, malte Striche für die Stunden
ein, keinen Stundenzeiger. Der Minutenzeiger stand knapp vor zwölf. „Ich muss
weg, es bleibt keine Zeit für das, was ich dir eigentlich sagen wollte. Nur so viel
jetzt: Du wirst noch eine Weile in der Talsohle ausharren müssen, manches
Ungemach zu überstehen haben. Er erhob sich. „Komm hierher, wenn ich dich
rufe, du wirst es spüren. Erzähle niemandem von unserem Treffen, sie würden dich
für übergeschnappt halten. Die Leute schätzen es nicht, wenn jemand allzu sehr von
der Norm abweicht
Carl streckte gewohnheitsmäßig
die Hand aus, doch die Gestalt war überraschend
schnell im Nebel verschwunden. Wie erstarrt saß er auf dem Baumstrunk, bis die
Nachtkälte in die Glieder stieg. Er rieb sich die Augen. „Habe ich geschlafen, die
Begegnung nur geträumt? Nachdenklich betrachtete er den Kreis im Sand mit den
regelmäßigen Strichen für die Stunden, der lange Zeiger stand nun auf zwölf, der
Stundenzeiger fehlte. Ein Beweis, dass er da war? Er war sich ganz sicher, die Uhr
nicht in den Sand gezeichnet zu haben, schlenkerte die Beine, um die Starre aus
den Gelenken zu vertreiben, ging mit schleppenden Schritten durch den Auwald zur
Straße. Es war kühl geworden im Wind. Kopfschüttelnd ermahnte er sich, seiner
Fantasie Fesseln anzulegen, es war nicht ungefährlich, Erträumtes mit der Realität
zu verwechseln. Er schritt rasch aus, schlich im Haus in den zweiten Stock, mied
knarrende Stufen, um niemanden zu wecken, bis ihm einfiel, er war allein, die
Kinder waren aus dem Haus, seine Frau war unter der Erde, genauer: ihre Asche
im Meer. Sie hatte eine Seebestattung gewünscht, wollte nicht, dass er und die
Kinder zur Grabstätte pilgerten, es war ihr wichtig gewesen, der Familie traurige
Erinnerungen zu ersparen. Er trat auf den Holzbalkon, starrte auf die über dem
Fluss liegenden Nebelbänke, sah die Lichter des Dorfes gegen die Schwärze der
Nacht ankämpfen, lauschte dem dunklen Anrollen der Eisenbahn aus der Ferne,
dem Anschwellen des Gedröhnes, dem Vorbeidonnern und dem sich
entfernendem Verklingen. Die Zuggeräusche waren ihm von Kindheit an vertraut.
Ihm fiel ihm, Vater hatte ihn etwas fragen wollen. Unschlüssig zog er sich aus,
schlief sofort ein. Plötzlich fuhr er auf, setzte sich kerzengerade im Bett auf und
stieß sich den Kopf an der Schrägdecke an. Was war das gewesen? Vater hatte
ihn im Traum gefragt, ob er nie mehr zum Moorsee komme, um das Mädchen mit
dem seltsamen Namen Moormaid zu besuchen. Von jenem eigenartigen Land, das
er Moorland genannt habe, wisse er nur das, was der Sohn im Buch beschrieben
hat. Verwirrt stand Carl auf, trat im Nachthemd die einengenden Pyjamas konnte
er nicht ausstehen auf den Balkon. Vater hatte also sein Buch gelesen,
verwechselte ihn offensichtlich mit Hannes, dem Protagonisten. Ihn hatte Maid
geliebt, so war es geschildert. Carl legte das Gesicht in die offenen Hände wie
stets, wenn er Erinnerungen aus dem Gedächtnis aufzurufen versuchte. Wohl war
ihm bewusst, dass die Begegnung am Fluss und der Traum Halluzinationen waren,
ein Toter kann sich nicht auf den Weg in die Welt der Lebenden machen, doch die
Frage ließ ihn nicht los, was Vater im Traum sagen hatte wollen. In den letzten
Monaten hat er viel an Vater gedacht, er war in der Erinnerung so lebendig als
lebte er. Seinerzeit, als sie im Urlaub in den Bergen jeden Abend Karten gespielt
und viel gelacht hatten. Auch im Spiel hatte Vater seine Korrektheit nie ablegen,
sein Wesen nicht ändern können. Ein einziges Mal hat Carl gezeigt, dass er so
mischen konnte, dass eine bestimmte Karte obenauf blieb, Vater hatte das nicht
amüsant gefunden und gerügt: „Mogeln beim Spielen gibt es nicht!
Carl war auf dem Rückweg aus dem
Urlaub. Wochen hatten ihn die lästigen
Scherereien verschont, als ihn die Wirklichkeit auf der Autobahn einholte. Ein
Streifenwagen winkte ihn mit der Kelle auf einen Rastplatz. „Sie sind zu schnell
gefahren, Ihre Papiere bitte!, bellte der Polizist, überprüfte die Autonummer und
reichte den Ausweis zurück.
Im Strom der Fahrzeuge war Carl wie hundert
andere zehn Kilometer schneller als
erlaubt gefahren, hütete sich aber, das einzuwenden. Die Erfahrung hatte ihn
gelehrt, zu schweigen. Irgendetwas war immer am Auto zu finden, das nicht den
Vorschriften entsprach. Der zweite Polizist, der im Auto sitzen geblieben war, hatte
eine Suchanzeige mit Foto in den Händen. Carl hatte einen Blick darauf geworfen,
ihm schien, der Gesuchte sah ihm ähnlich. Auf die Frage, ob sie jemanden suchten,
kam ein kurzes Ja. Carl nahm den Zahlschein entgegen. „Sie können weiterfahren.
„Kann ich das Foto mal sehen?, erkundigte
sich Carl.
Der Beamte schaute zum Kollegen, der nickte.
Eine Ähnlichkeit war vorhanden, der
auf dem Suchbild schien allerdings jünger zu sein. Waren seine Kalamitäten etwa
auf eine Verwechslung zurückzuführen? Wie eine Sofortbildkamera hatte er das
zweite Foto gespeichert, das der Polizist nicht schnell genug verdeckt hatte; der
Mann auf dem Bild war ohne Zweifel er. Bildausschnitt und Hintergrund glichen
jenen im Bildtelefon, er war also angezapft worden. Doch seit der Begegnung mit
Vater maß er den Schwierigkeiten nicht mehr so viel Bedeutung bei.