6.3 Probekapitel
1. Die Frau des Richters
Der tödliche Unfall des Richters veränderte das Leben Adelheid Kerbers von Grund auf im positiven Sinn, brauchte sie sich doch nun von niemandem mehr gängeln und herabsetzen zu lassen, sie war frei, endlich frei. Bei dem Autounglück hatte sie sich Schnittwunden zugezogen, eine Narbe war geblieben, die sie durch ins Gesicht gekämmte Stirnfransen verdeckte. Sie hatte Glück gehabt, war mit dem Leben davongekommen – ihrem Mann war das Schicksal nicht so hold gewesen.
Nach dem Unfall – sie bezeichnete ihn weiterhin so, obwohl viel mehr dazu zu sagen wäre – wurde ihr erst so richtig klar, wie sehr ihr die jahrzehntelange Demütigung zugesetzt hat. Die seelischen Narben waren anders als die Schnittwunden im Gesicht nicht so gut verheilt. In den letzten Monaten hatte ihr Hass auf den Richter, der sich nie genug damit brüsten konnte, es so weit gebracht zu haben, ständig zugenommen und hat sich nach und nach, wie sie sich später zum eigenen Erstaunen eingestand, auf alles Männliche übertragen.
Adelheid hat wie ihr Mann Jura studiert, war die beste des Jahrgangs gewesen. Im Krieg hatte sie das Studium abbrechen müssen. Die jüngeren Geschwister waren zu betreuen und das Unrechtssystem tat alles, um die Frauen an den Herd zurück zu bringen, sie aus den Universitäten zu drängen. Trotz allem war es ihr gelungen, im Justizdienst Fuß zu fassen, wenn auch nur im mittleren Dienst, während ihr Mann zum Richter aufgestiegen ist. Die Ungerechtigkeit hatte sie gekränkt, schließlich war sie um Längen besser gewesen und – im Ministerium war das kein Geheimnis geblieben – auch intelligenter war als der Verunglückte. Zwar fehlte ihr die für die Juristerei erforderliche Besessenheit zur Wortklauberei, aber sie glich das Manko durch Intelligenz aus, kam schnell zum Punkt und entschied rasch. Im Staatsdienst allerdings eher die Karriere behindernde Eigenschaften.
Zur kleinkarierten Denkweise ihres Mannes passte, bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit eine Anspielung zu machen, sie habe das Studium nicht geschafft. Er hat nie verkraftet, dass sie in allen Fächern besser abgeschnitten hat, auch historische und philosophische Hintergründe drauf hatte. Seine Sticheleien hatten sie gewurmt, sie hatte sich das aber nicht anmerken lassen, im Gegenteil, sie hatte gelacht, als hätte er einen seiner abgestandenen Witze gerissen. Sie ahnte, die Zeit war nicht mehr fern, da sie sich über ihn lustig machen würde. Sein Verhalten war unfair und es war Absicht.
Oft hatte sie sich geärgert, dass er jede unbedeutende Kleinigkeit umständlich und zeitraubend bearbeitet hat, das Richteramt nicht effizient ausüben konnte, viel weniger Fälle durchgezogen hat als Kollegen. Das war seinem Aufstieg nicht gerade förderlich gewesen und ausgerechnet er wollte sie dazu bringen, die Hausverwaltung effizienter zu organisieren. Als sie aber vorschlug, seine Unterlagen zu ordnen, er verliere zu viel Zeit mit dem Suchen, wäre er ihr fast an die Gurgel gesprungen, hätte es wohl auch getan, wäre da nicht das Handicap gewesen, ein Andenken aus dem Krieg. In seiner arrogantem Art – eine Kollegin im Ministerium vermutete, er habe Minderwertigkeitskomplexe – hatte er ihr zu verstehen gegeben, Verwaltungskräfte verstünden von der Arbeit der Richter so gut wie nichts. Seine durch nichts gerechtfertigte Überheblichkeit hat sie oft zur Weißglut gebracht, hat sie viel Selbstbeherrschung gekostet, sich nichts anmerken zu lassen, ihn sogar freundlich anzulachen. Allerdings konnte er sich nie sicher sein, ob sie ihn nun aus- oder anlachte.
Er war erleichtert gewesen, als sie die Universität verlassen musste. Nach der Einberufung war er in der Uniform eines Leutnants aufgekreuzt, das hatte ihn mit Genugtuung erfüllt, zum ersten Mal hatte er etwas vorzuweisen, bei dem sie nicht mithalten konnte. An der Front hatte er einen Granatsplitter abbekommen, war ins Lazarett gekommen, das Ende seines Daseins als Offizier. Er hatte dem Führer ein Bein geopfert und gelernt, mit Prothese und Krücke zu gehen, den Beruf wieder aufnehmen und vor Gericht auftreten können. Mit zunehmender Sicherheit war seine Arroganz zurückgekehrt, er hatte zu sticheln begonnen, obwohl er auf Adelheid angewiesen war und ihr die gesamte Arbeit in Haus und Garten überlassen musste. Nach kleinen Umbauten im Auto war er auf kürzeren Strecken mit Prothese gut zurechtgekommen, hatte sich aber mit der Behinderung nie abgefunden. Es war kein echter Trost gewesen, dass von seiner Kompanie nur wenige das Massel hatten, zu überleben.
In den ersten Jahren nach Bezug des Reihenhauses hatten sie öfter Gäste gehabt, doch als sich die Spannungen gehäuft und mehr oder minder offen zum Ausbruch gekommen waren, hatten Gäste Ausflüchte gesucht, um der Einladung und mitunter peinlichen Szenen zu entgehen. In seiner fast krankhaften Sucht, Recht zu behalten, hatte er mitunter die einfachsten Formen der Höflichkeit vernachlässigt.
Wie in Ehen üblich gaben die Partner einander die Schuld. Er hat Adelheid bezichtigt, männlichen Gästen schöne Augen zu machen und auf Teufel komm raus zu flirten. Ihre einzige Freundin Evelyn im Ministerium behauptete, sein Verhalten hänge damit zusammen, dass Kerber nicht nur ein Bein verloren habe, sondern auch jener Teil des Körpers in Mitleidenschaft gezogen worden sei, den Frauen manchmal verfluchen, mitunter herbeisehnen. Evelyn war froh gewesen, sagte sie, als sie endlich Witwe geworden ist, ihr Mann hat sie lange genug gepiesackt. Halb im Scherz hat sie zum Ausdruck gebracht, man müsste diese Quälgeister beseitigen, die Frauen das Leben schwer machen. Und dann war ein Satz gekommen, den Adelheid nie vergessen sollte. „Frauen sollten sich zusammenschließen um ihr Los zu verbessern und nicht Angst haben zu müssen, durch Scheidung ihr Heim zu verlieren oder sozial abzusinken.“
Anlass für Streitigkeiten des Ehepaars waren selten fachlicher Natur wie etwa Verfahrensmängel oder Urteile, meist hatten sie persönliche Ursachen. Da aber der hundertfünfprozentige Jurist das Leben allein unter rechtlichen Gesichtspunkten betrachtete, spielten für ihn persönliche Kategorien eine untergeordnete Rolle: Für jedes Ereignis, das nicht lief wie es seiner Ansicht nach laufen sollte, ergründete er umgehend Rechtsgrundlage und Zuständigkeit, um wenn möglich Einspruch zu erheben. Diskutieren mit ihm lohnte nicht, er suchte so lange – und dafür besaß er ein phänomenales Gedächtnis –, bis er einen Paragraphen fand, mit dem sich seine Ansicht deckte. Seine Rechthaberei hatte ihm weder Freunde verschafft noch beruflich genützt.
Nach der Pensionierung hatte er die Beratertätigkeit in sein persönliches Umfeld verlagert und mit nachtwandlerischer Sicherheit überall etwas gefunden, das nicht korrekt geregelt war, Paragraphen nicht exakt ausgelegt oder – kaum vorstellbar – nicht beachtet worden waren. Sofort hatte er die strikte Einhaltung der Vorschriften eingefordert.
So hatte er sich maßlos erregt, als es Anrainer wagten, den kürzeren Fußweg über den Garagenhof – je ein Zwölftel gehörte zu jedem Haus – zur Busstation zu benutzen, obwohl er ein Schild anbringen lassen hatte: Privatgrund, Durchgang nicht gestattet! Die Kosten für Schild und Aufstellung hatte er auf Heller und Pfennig anteilsmäßig verrechnet, hatte es kaum fassen können, dass Leute das Schild ignoriert und weiter den Abkürzungsweg benutzt hatten, widerrechtlich! Er war den Garagenbesitzern so lange in den Ohren gelegen, bis sie einverstanden waren, den Weg durch einen Zaun abzuriegeln, obwohl einige selbst morgens zum Bus liefen. Sein Argument, jemand könnte sich über den nicht gestreuten Trampelpfad ein Bein brechen und die Versicherung würde sich an den Garageneignern schadlos halten, hatte überzeugt.
Rund ein Jahr war Richter Kerber im Rechtsausschuss der Gemeinde gesessen. Da er trotz Krieg, Verwundung und langer Berufspraxis nicht einsehen wollte, dass man Anfängern zubilligen müsse, aus Fehlern zu lernen, war er bald allen auf den Wecker gefallen.
„Wir brauchen keinen Oberlehrer, der uns ständig vor Augen hält, was falsch ist“, hatte ein Gemeinderat erklärt. Nur ein im gleichen Ministerium sitzender Bekannter seiner Frau hatte die Hand gehoben, um für die weitere Nominierung Kerbers im Ausschuss zu stimmen. Die schriftliche Mitteilung, der Ausschuss bedanke sich für seine wertvolle Mitarbeit, wolle ihn angesichts seines Kriegsleidens aber in Hinkunft nicht zusätzlich belasten, kränkte ihn.
„Sollen sie doch weiterhin Fehler machen! Wenn Sie sich nicht belehren lassen, wird es teuer für sie werden.“
Wider Erwarten hielten sich die Einbußen der Gemeinde nach seinem Ausscheiden in Grenzen. Wäre er Lehrer geworden, hätte er in der Schule sein Bedürfnis, andere zu belehren, was man besser machen könnte, ausleben können. Für die Kinder allerdings war es ein Segen, dass er nicht Lehrer geworden ist.
In einer Auseinandersetzung um Nichtigkeiten hatte ihm Adelheid vorgeworfen, er stoße mit seiner Art die Leute vor den Kopf, auch deshalb sei er nie Vorsitzender Richter geworden, obwohl er längst an der Reihe gewesen wäre. Seine Gegenrede, er habe nur der falschen Partei angehört, überzeugte nicht. Er konnte ihr nie verzeihen, dass sie an diese Wunde gerührt hat. Im Austeilen war er stärker als im Einstecken.
Seine Pedanterie hatte sie manchmal fast in den Wahnsinn getrieben, etwa wenn er auf die Zahnpastatube einen Zettel geklebt hat: ‚Verschließen!!!’ Mit drei Rufezeichen! Oder wenn sie Marmelade aufs Käsebrot gestrichen und er hundert Mal erklärt hat, das gehöre sich nicht; oder er aufgebracht war, dass sie das Mittagessen anbrennen hat lassen, weil sie so lange mit Nachbarinnen getratscht hat. In dem Fall hatte er ausnahmsweise Recht, es waren Frauen dabei, die auch sie langweilten, aber sie erfuhr Neuigkeiten über andere Nachbarn, nahm das seichte Geplätscher in Kauf. Schlimmer als die Haarspalterei waren Gepflogenheiten, die ihm nicht abzugewöhnen waren: Er aß mit Leidenschaft Knäckebrot, das knackte und krachte, als fräßen Kaninchen Karotten und futterte das verdammte Zeug nicht nur am Morgen, sondern zu jedem Essen. Beim Schlafen knirschte er mit den Zähnen und schnarchte, als lebte ein Bär bei ihnen, sie hatte getrennte Schlafzimmer durchgesetzt. Es wunderte sie nicht, in der Zeitung zu lesen, ein Mann habe seine Frau erschlagen oder sie ihn vergiftet, weil er oder sie ein Geräusch, das sie oder er jahrelang hingenommen hatte, nicht mehr ertragen konnte. Tag für Tag erduldete Schwächen sind auf einmal nicht mehr auszuhalten, positive Eigenschaften werden vergessen oder nicht mehr wahrgenommen, harmlose Menschen können zu tendenziellen Mördern werden. Richter Kerber hatte sich dem Irrglauben hingegeben, er könnte seine Beckmesserei zu Hause ungestraft austoben. Für ihn wäre es besser gewesen, er hätte die Ungezogenheit unterlassen.
Mit zusammengebissenen Zähnen ertrug sie Adelheid, bis sie ihm die Unarten bei erstbester Gelegenheit – der Abteilungsleiter aus dem Ministerium, der die Kandidatenliste für Vorsitzende Richter mit einem Kommentar versah, war zu  Besuch – um die Ohren schlug. Peinlich, als sie preisgab, er halte ihr ständig vor, die Zahnpasta nicht zu verschließen. „Dabei bezahle ich meine ohnehin von meinem Gehalt!“ Oder dass sie das Toilettenpapier falsch in die Rolle einlege. „Ja, ich weiß“, unterbrach sie seinen Versuch, die Flut der Anschuldigungen einzudämmen, „du hast es mir oft gezeigt, wie es richtig ist, aber ich mache es eben so!“ Sie könne es nicht mehr hören, dass sie die Nachbarn immer ermahnen soll, die Bäume so zu schneiden, dass das Laub nicht auf ihr Grundstück falle. „Alle unangenehmen Dinge überlässt du mir!“
War sie einmal in Fahrt, ließ sie sich durch seine beschwichtigenden Handbewegungen und warnenden Blicke nicht bremsen. Weder ihm noch dem Abteilungsleiter fiel auf, dass dessen Frau amüsiert nickte.
„Du hast mir hundertmal vorgeworfen, dass ich den Herd nicht ausschalte, glaubst nach wie vor, es sei witzig, mir zum x-ten Mal aufs Butterbrot zu schmieren, es entspreche nicht dem vorgesehenen Verwendungszweck, die Kochplatten als Beleuchtungskörper zu missbrauchen.“
Sie brachte die Vorwürfe mit einer Geschwindigkeit vor, er hatte keine Chance, zu Worte zu kommen. Zu lange hat es in ihr gebrodelt, nun kochte es über. Sie schloss ihre Hasstiraden mit der Schilderung seiner Gepflogenheit, das Fenster in der Toilette nicht zu öffnen, im ganzen Haus stinke es. „Wie kann man es so lange im eigenen Gestank aushalten!“
Noch ehe der angekündigte Nachtisch serviert werden konnte, verabschiedete sich der Ministerialrat überstürzt, während sich seine Frau offensichtlich gut unterhielt, sein Drängen aber nicht länger ignorieren konnte. Den hohen Beamten irritierte das eigenartige Lächeln seiner Ehefrau, das Adelheid nicht entgangen war. Seit jenem Abend war aus dem kalten Krieg im Richterhaus ein heißer geworden, sie gingen sich nach Möglichkeit aus dem Weg. Nach weiteren Scharmützeln, die ans Eingemachte gingen, einigten sich die Eheleute auf einen Waffenstillstand, nachdem er zugesagt hatte, auf seine ohnehin vergeblichen Korrekturversuche ihres Tuns künftig zu verzichten.
Schon lange hat sie es als unerträglich empfunden, ständig gemaßregelt zu werden. Sie hat die unerbetenen Ratschläge, was sie anders machen sollte, um des lieben Friedens willen hingenommen, aber alles so gemacht, wie sie es für richtig gehalten hat. Gefangen in seiner Rechthaberei hat er sie zur Rede gestellt, er habe das doch ganz anders angeordnet.
Da hat sie klar gestellt: „Pass mal auf, mein Lieber: Du ordnest hier nichts mehr an und mir schon gar nicht, du bittest um etwas. Solange ich die Arbeit mache, bestimme ich, wie ich sie mache! Ich habe deine Besserwisserei bis hierher satt!“ Sie machte mit der Hand eine Geste zum Hals. „Und wenn es dir nicht passt, mach den Kram doch allein! Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“
Er hatte geschwiegen, hatte nichts Stichhaltiges dagegen setzen können. Adelheid war ruhig geblieben, er hatte es nicht ernst genommen, das war ein grober Fehler, wie sich erweisen sollte. Bald gab er wieder seiner krankhaften Nörgelsucht nach, bis sie eines Tages ohne Vorwarnung zu ihrer Mutter fuhr, einen Zettel hinterließ, sie werde eine Woche bleiben, vielleicht auch zwei. Am nächsten Tag rief er kleinlaut an und bat sie zurückzukommen, er schaffe es nicht allein. Drei Tage zögerte sie die Rückkehr hinaus, wollte ihn merken lassen, wie sehr er auf sie angewiesen war. Bei ihrer Rückkehr spielte er den Zerknirschten, doch der häusliche Friede hielt nicht lange vor, die Konflikte verschärften sich, der Richter brachte es nicht fertig, seine Bosheiten zu unterdrücken, kaschierte sie nur besser. Adelheid gab sich nach außen beherrscht, schwor sich aber, ihm eines Tages alles zurückzuzahlen. Mit Zinseszins!
Trotz langjähriger Praxis im Umgang mit zu Rechtsbrüchen und Gewalttaten neigenden Individuen war ihm nicht geläufig, dass ein Waffenstillstand kein Friedensvertrag ist, sondern dem Gegner auch Gelegenheit gibt, Kräfte zu sammeln, das Arsenal aufzufüllen und seine Formationen neu zu formieren. Seine Hoffnung, das gegenseitige Anschweigen beseitige auch die Ursachen der Zwietracht, alles werde sich von selbst einrenken, erwies sich als verhängnisvoller Denkfehler. Kerber war nicht in der Lage, sich in die Psyche einer Frau einzufühlen, sonst hätte er gewusst, dass hassende Frauen gefährlich sind, bringen sie doch eine unglaubliche Geduld auf, um den geeigneten Moment zum Gegenschlag abzuwarten und es dem anderen gerade dann heimzuzahlen, wenn er am wenigsten darauf gefasst ist. Das neutrale bis wohlwollende Verhalten bis zum letzten entscheidenden Hieb, so als hätte Adelheid alle Kränkungen vergessen und verziehen, machte ihre Taktik so unheimlich wirksam. Das war, so hätte es ihr Mann, der Ex-Richter, formuliert, sozusagen die Rechtslage, bevor es zum Unfall kam. Die Gelegenheit zur Vergeltung kam unerwartet rasch und war so auch nicht vorauszusehen. Das Leben macht sich nicht die Mühe, einschneidende Veränderungen anzukündigen.
Er hatte darauf bestanden, das Auto selbst zu steuern, wollte beweisen, dass er damit ebenso gut zu Rande kam wie sie. Bereits vor der Fahrt hatte es einen Disput gegeben, weil sie beim Abholen des Fahrzeugs aus der Werkstatt vergessen hatte, zu kontrollieren, ob das Innenlicht repariert worden ist. Gereizt waren sie losgefahren, hatten sich eine halbe Stunde angeschwiegen, bis er in einen Waldweg eingebogen war, um sich zu erleichtern, seit der Verwundung häufig erforderlich. Ihr Angebot, das Steuer zu übernehmen, hatte er mürrisch abgelehnt. Die Krücken hatte er wie gewohnt neben sich abgelegt, allerdings – er war sehr erregt, wie sie später im Protokoll angeben sollte – versehentlich auf seiner Seite. Er war zügig gefahren und hatte sich, als ihn ein kleiner PKW überholte, detailliert über das vorschriftswidrige Überfahren des Sperrstreifens auslassen. Gereizt hatte sie erwidert, es bringe nichts, ständig andere zu kritisieren, das ändere niemanden. Und als er sie aufgefordert hatte, die Opernarie abzudrehen oder wenigstens leiser zu stellen, hatte sie das Radio lauter gedreht und geschrien, sonst hätte er sie nicht gehört: „Ich habe es bis hierher satt“, sie hatte wieder ihre ihm verhasste Geste zum Hals gemacht, „immer nachzugeben.“
„Dann schnalle dich wenigstens an“, hatte er zurückgerufen, „es ist Vorschrift!“
Sie hatte mit einer ihr Desinteresse ausdrückenden Handbewegung reagiert.
Bei der ersten Anhörung im Krankenhaus gab an sie, seinen Ärger an der Gesichtsfarbe erkannt zu haben. Zornig habe er die Geschwindigkeit erhöht, die Kurve in der Allee trotz Warnschild unterschätzt. Irgendwie habe sich sein Fuß in den Krücken verheddert, erklärte sie, jedenfalls zu spät gebremst, die Kurve nicht geschafft und sei direkt auf einen Baum zugerast. Das sei alles so schnell gegangen, dass sie in Panik die Tür aufgerissen habe und durch den Aufprall herausgeschleudert worden sei, während er mit voller Wucht auf den Baum geprallt sei, angeschnallt.
Im Protokoll stand, sein Kopf ist auf die Kopfstütze geprallt, dann auf die Windschutzscheibe geschleudert worden. Die Untersuchung ergab, dass er auf der Stelle tot gewesen ist, während sie ohnmächtig im Gebüsch gelegen ist, das den Sturz abgefedert hat.
Der Unfall lag Jahre zurück, Herr Kerber ist vermutlich bereits vor dem obersten Richter gestanden und hat diesem erklärt, was er falsch mache und wie er die Welt besser ordnen könne. Frau Kerber trug kurze Zeit Trauerkleider, doch bald schallte ihr helles Lachen wieder durch die Reihe, öfter und herzlicher als vor dem Todesfall. Eine Nachbarin raunte der anderen zu, sie beneide Kerber um ihr Naturell, sie könne ihre Trauer offenbar dosieren. Die andere war überzeugt, Adelheid sehe sichtlich erleichtert aus, dass der Besserwisser nun in einer anderen Welt die Opfer für seine Belehrungen suchen müsse.
Der Ausspruch war Frau Kerber hinterbracht worden und sie hatte hellauf gelacht. „Ich bezweifle, ob man in jenen Gefilden auf ihn gewartet hat. Offen gesagt glaube ich eher, dass er denen auch bald auf die Nerven fallen wird, aber das ist nicht mehr mein Problem.“
Dass es kam, wie es kam, hatte sie natürlich nicht ahnen können, war aber im Großen und Ganzen mit dem Ablauf zufrieden. Sie hatte nun ihre Ruhe, musste sich nicht mehr über seine gottverdammte Nörgelsucht ärgern. Die Narbe im Gesicht – ein Andenken an den Unfall – störte zwar mitunter, erinnerte sie aber auch immer wieder daran, richtig gehandelt zu haben. Die anderen Schnitte waren verheilt, die Schramme auf der Stirn verdeckte sie eine Zeit mit der Frisur, gewöhnte sich an sie und trug die Narbe schließlich wie einen wegen Tapferkeit vor dem Feind verliehenen Orden – und in gewisser Weise stimmte das ja auch.
Schon eine Zeit vor dem Unfall hatte sie nicht mehr von ihrem Ehemann gesprochen, sondern von dem Mann, dabei den männlichen Artikel etwas herablassend artikulierend.
Natürlich machte sie sich Gedanken, wie es möglich war, dass die zuerst im Verborgenen schwelende Abneigung sich zum Hass entwickelt hat und schließlich wie ein Vulkan hervorgebrochen ist. Und sie überlegte, dass es anderen Frauen ganz sicher so ähnlich erging und wie sie damit fertig wurden. Adelheid beschloss, sich bei Bekannten und im Umfeld umzuhören. Über etwas hatte sie Gewissheit gewonnen: Sie würde ihre Tage nicht als trauernde Witwe beschließen und ohnmächtig zusehen, wie ihr die Zeit wie Sand zwischen den Fingern zerrann.