2.4 Einfache Vorhänge 1990
Einfache Vorhänge (1990)
Die Kollegen am Deutschlehrstuhl der Fakultät für Fremdsprachen der Pomoren Universität Archangelsk hatten auf den Sprachträger aus der BeErDe, wie es hieß, gewartet. Nachdem er eine Woche in der Hafenstadt gelebt hatte, konnte er die Mühe einschätzen, ein Auto zum Abholen zu organisieren, ganz von der Wohnung zu schweigen. Der Flughafen sah noch immer armselig aus, dafür war das Fliegen für Sowjetbürger billig. Der Schnee milderte die Tristesse der Stadt. Anfang April war vom Ende des Winters noch keine Spur. Die Isolation der dicken, mannshoch über der Erde führenden Rohre der Fernwärmeleitung war aufgerissen, der Schnee auf der Straße mit Dreck zu einem grauschwarzen Pulver vermischt. Sie bogen in die Straße ein, wo er wohnen sollte, die Plattenbauten machten einen tristen Eindruck.
„Hier ist ein Kino, auf der anderen Seite das Kaufhaus.“
Er kämpfte gegen das aufsteigende Heimweh an, die Lehrstuhlleiterin merkte es, drückte seinen Arm. „Wir sind so froh, dass Sie hier sind, haben wirklich auf Sie gewartet.“
Der Fahrer kurvte in der Nebenstraße vorsichtig an den Löchern vorbei, man sah ihnen ihre Tiefe nicht an. Er wusste, an das Zuknallen der hölzernen Schwingtüren, wenn jemand durch den gewinkelten Eingang kam, würde er sich nie gewöhnen. In einem Verschlag nach dem Eingang saßen zwei Männer, guckten prüfend durch das Schiebefenster. Die Lehrstuhlleiterin stellte ihn als Professor aus dem Westen vor, er werde hier wohnen. Der Lift arbeitete nicht, wie Russen sagen. In der Wohnung im sechsten Stock waren Studenten dabei, den Hausgang auszumalen. Die Kollegin erklärte, das machten sie statt des Subbotnik (Pflicht für Studenten und Dozenten, die Höfe von Studentenheim und Hochschule zum 1. Mai zu säubern.), es war absehbar und nicht kalt. Die Tapeten waren frisch geklebt. „In ein paar Tagen ist alles trocken.“ Sie liehen ihm Geschirr, Besteck, Töpfe und einen Reisigbesen. Im Warenhaus kaufte er Kleiderbügel aus Plastik, die sich verbogen, hängte er etwas auf. Aber es gab Toilettenpapier, sonst war das Warenangebot erschütternd. Allerdings hungerte niemand, Brot war spottbillig, das von gestern wurde weggeworfen. Beim Gasherd hatte er Angst, er könnte in die Luft fliegen. „Das geschieht äußerst selten“, beruhigte man ihn.
Friedrich war froh, die Schnüre zu haben, mit denen er Bücher verpackt hatte, spannte sie durch die Küche zum Wäschetrocknen. Seine Wäsche musste er unter laufendem Warmwasser im Becken waschen, es gab keine Stöpsel. Die Zentralheizungen hatten keine Ventile, geregelt wurde durchs Fenster. Als er von Verschwendung sprach, schauten alle verwundert. „Warmes Wasser und Heizung sind doch umsonst!“
Es gab keinen Kaffee, er stellte sich auf Tee um, war um den Tauchsieder froh. Anfangs gefiel es ihm, als jeden Abend, kaum saß er am Tisch, jemand klopfte und ihn einlud, man möchte ihn kennenlernen. Es wurde gesungen und Tee getrunken, manchmal mit, manchmal ohne Wodka. Nach zehn Tagen machte sich der Mangel an Schlaf bemerkbar. Neben den Übungen hielt er Vorträge an verschiedenen Fakultäten und in anderen Institutionen, musste die Feten einschränken.
Er brauchte Vorhänge, damit nicht jeder sah, dass er da war. Das Studentenheim war so gebaut, dass man übers Eck in die Wohnung blicken konnte.
graphic graphic Er fragte Viktor, wo es Vorhänge gebe.
„Wie viele Semester willst du denn bleiben?“ kam als Rückfrage.
Die erstaunte Antwort: „Ich möchte einfache Vorhänge, damit nicht jeder reingucken kann.“
Geduldig erklärte Viktor: „Die einzige Bohrmaschine der Hochschule wird nach einer Liste verliehen. Du kämst im September dran, wenn das Ersatzteil kommt. Jetzt ist sie bei der Reparatur.“ Das verblüffte Gesicht veranlasste Viktor zur Frage: „Hast du denn Stoff?“
„Kaufe ich.“
Mitleidig maß ihn der Germanist. „Du bist schon eine Weile hier. Hast du irgendwo Vorhangstoff gesehen, der nicht aussieht wie aus dem Zug gestohlen? Sag es, ich suche danach. Hast du Schiene, Dübel, Schrauben, Haken und was man sonst braucht?“
Unsicher geworden schüttelte er den Kopf.
„Und wenn du das hast: Woher nimmst du Werkzeug?“ Nach einer Pause: „Nun, das könnten wir ausleihen, aber ohne Stoff, ohne Schiene und ohne Bohrmaschine geht’s nicht.“ Er dachte nach. „Du hast doch Ersatzbatterien?“
Friedrich nickte.
„Ein Nachbar ist Nachtwächter, hat keine Batterien für die Lampe. Er würde uns Scheibenwischer dafür geben.“
„Viktor, ich brauche Vorhänge, keine Scheibenwischer!“
Der tat, als hätte er nichts gehört. „Haben wir diese, kann ich ein Farbband für die Schreibmaschine organisieren.“
Nun wurde Friedrich ungeduldig. „Weder Scheibenwischer noch Farbband – Vorhänge will ich!“
Viktor hielt den Kopf schief. „Du musst nicht laut werden, ich höre gut. Du weißt, wir haben nur Defizite. Jeder tauscht, jeder hat etwas gehortet. Habe ich ein Farbband, leiht mir ein Freund die Bohrmaschine aus der DDR. Er ist bei jedem Loch dabei, damit sie niemand kaputt macht oder Bohrer abbricht. Seine Frau hat eine Nähmaschine. Wenn du ihr“, er schaute traurig auf die letzte Dose Löscafé, „die Dose gibst, sie ist eh nicht mehr voll, näht sie Vorhänge. Vielleicht treibt sie auch Stoff auf.“
Friedrich war entmutigt. „Und was soll ich dafür geben, den Kassettenrecorder?“
Viktor kratzte sich hinterm Ohr. „Nu, das wäre zu viel. Lass sehen, was noch im Koffer ist!“
„Und wie lange wird es mit den Tauschgeschäften dauern?“
„Nun, drei bis vier Wochen.“
Friedrich begleitete Viktor in den Vorraum hinunter, wo die Wandtelefone hingen. Das Gespräch kostete zwei Kopeken, aber die Apparate waren dauernd besetzt, die Studenten hatten sich viel zu erzählen. Ob Viktor bei der bissigen Hausverwalterin eine Decke für ihn organisieren könne? Sie gab wirklich eine Decke heraus, nachdem Viktor ihr hässliches Kleid bewundert hatte. Friedrich hängte die Decke vors Fenster. Ihm war klar geworden: Ging ein einziges Tauschgeschäft schief, war das Semester vorbei.